Ärzte sollen ihre Praxen länger öffnen, damit Kassenpatienten schneller einen Termin bekommen. Doch für diesen Plan erntete Gesundheitsminister Jens Spahn viel Kritik
20 bis 25 Stunden pro Woche sollen sich Ärzte ab 2019 mindestens für Patientensprechstunden freihalten
Mehr Zeit für Patienten, mehr Geld für Ärzte – das klingt nach einer Idee, bei der alle gewinnen. Trotzdem hat Gesundheitsminister Jens Spahn mit seinem jüngsten Gesetzesvorschlag große Diskussionen ausgelöst. Er plant, die Mindestsprechzeit von Ärzten im kommenden Jahr von 20 auf 25 Stunden pro Woche anzuheben.
Von den längeren Praxis-Öffnungszeiten sollen Kassenpatienten profitieren, die bisher oft lange auf einen Termin warten müssen. Zusätzlich will Spahn für bestimmte Ärztegruppen, etwa Gynäkologen, HNO-, Augen- und Kinderärzte, fünf offene Sprechstunden durchsetzen. Diese sollen Patienten ohne Termin vorbehalten sein. "Das wirkt wie ein Überlaufventil bei zu langen Terminwartezeiten", erklärte der CDU-Politiker gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt.
Gegen die Zweiklassenmedizin
Mit dem Vorhaben möchte der Minister ein Zeichen gegen den Vorwurf der Zweiklassenmedizin setzen. Denn Kassenpatienten werden bei der Terminvergabe oft benachteiligt. Vor allem der Weg zum Facharzt ist für sie meist mühseliger als für Privatpatienten.
In Nordrhein-Westfalen etwa warten Kassenpatienten im Schnitt 27 Tage länger auf einen Termin als Privatversicherte. Das zeigt die Antwort auf eine Anfrage der Grünen im Landtag.
Dagegen will sich Spahn starkmachen. Lob erhält er dafür von den Kassen: "Wir begrüßen die zusätzlichen Sprechstunden, denn 90 Prozent der Menschen in Deutschland sind gesetzlich versichert und würden davon profitieren", sagt Ann Marini vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen.
Rückhalt von Kassen und Politik
Sie wünscht sich klare Gesetze, die jede Form der Bevorzugung verbieten. "Es muss endlich aufhören, dass Privatpatienten schneller Termine bekommen als die große Mehrheit der Kassenpatienten."
Auch Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientenschutz, lobt Spahns Vorstoß: Es sei richtig, die Sprechstundenzeiten zu erhöhen. Auch sei es gut, dass die zusätzlichen Zeiten auf Hausbesuche angerechnet werden könnten. Es gelte, Pflegebedürftige und Schwerstkranke wieder vermehrt zu Hause zu besuchen.
Ärzte kritisieren den Vorschlag
Viele Ärzte bezweifeln jedoch, dass das Vorhaben dazu taugt, die Wartezeiten zu verkürzen. "Das ist ein völlig unausgegorener Vorschlag", meint etwa Roland Stahl von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). "Im Schnitt arbeiten selbstständig niedergelassene Ärzte schon jetzt etwa 52 Stunden pro Woche. Diese Woche ist gefüllt mit Sprechzeiten, Behandlungen, Hausbesuchen und viel Papierkram."
Zusätzliche Stunden ließen sich nur realisieren, wenn man sie an anderer Stelle einspare oder die Arbeitszeit erhöhe. Die Ärzte aber seien am Limit.
Auch Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender des Hausärzteverbands, hält mehr Sprechstunden für unrealistisch. Begründung: der Personalmangel. "Zur Wahrheit gehört auch, dass sich die Zeit einzelner Ärzte nicht durch offene Sprechstunden vermehren würde. Wir brauchen schlicht mehr Hausärzte."
Chaos in den Praxen befürchtet
Die Mediziner führen viele Argumente gegen eine Aufstockung ihrer Sprechstunden ins Feld. So hätten vor allem Fachärzte ein Problem mit den geplanten offenen Sprechstunden. In ihren Praxen finde oft komplizierte Diagnostik statt, da brächten unangemeldete Patienten schnell die Abläufe durcheinander.
Bauchweh bereitet den Ärzten außerdem, dass sich der Gesetzgeber direkt in die Arbeitsabläufe ihrer Praxen einmischen will. "Verpflichtende Regelungen, die uns vorschreiben, wie wir den Praxisalltag zu organisieren haben, lehnen wir klar ab. Vorgaben von oben helfen hier nicht weiter und wären zudem nicht mit dem freien Arztberuf vereinbar", so Weigeldt.
Jens Spahns Vorschlag werde keine Probleme lösen, sondern neue schaffen, heißt es deshalb vonseiten der Kassenärzte. Sie warnen vor Chaos in den Praxen und noch längeren Wartezeiten. "Die Praxen sind proppenvoll. Da ist es nicht sinnvoll, die Terminvereinbarung infrage zu stellen", meint Stahl, der das Wartezeitenproblem ohnehin für aufgebauscht hält.
"Objektiv betrachtet gibt es da keine generelle Problematik. Termine sind in der Regel schnell verfügbar, und der größte Teil der Patienten ist zufrieden. International betrachtet stehen wir spitzenmäßig da." Das sehen allerdings nicht alle Experten so.
Problematik bei der ärztlichen Vergütung
Eine aktuelle Studie der Universität Hamburg beispielsweise zeigt, dass Vertragsärzte ihre Tätigkeit alle drei Monate deutlich einschränken. Erst mit Beginn eines neuen Quartals steigen die Terminzahlen dann wieder sprunghaft an.
Das liegt am Vergütungssystem für Ärzte: Rund 70 Prozent aller Untersuchungen werden von den Kassen nur bis zu einer bestimmten Menge voll bezahlt. Ist diese Menge erreicht, können Ärzte ihre Patienten weiter behandeln – erhalten aber kein Geld.Eine Aufstockung der Sprechstunden soll sich für die Ärzte rechnen. Deshalb möchte das Gesundheitsministerium deren Vergütung im Zuge der Neuregelungen anheben.
Die Kassen lehnen eine solche Anpassung jedoch ab. "Das sollte mit Blick auf den Versorgungsauftrag abgedeckt sein", erklärt Marini. Die Ärzte sehen das anders. Schon jetzt würden rund 15 Prozent ihrer Leistungen aufgrund der Vergütungsregelung mit den Krankenkassen nicht bezahlt, sagt etwa Roland Stahl von der KBV. "Bevor man über mehr Arbeit spricht, sollte fairerweise erst einmal die geleistete komplett bezahlt werden."
Bald wird sich zeigen, ob die Regelung wie geplant kommt. Das Gesundheitsministerium hat Kassenärzten und Kassen drei Monate eingeräumt, um Vorschläge zur Ausgestaltung des Gesetzes einzubringen. Aktuell aber sind die Fronten verhärtet.
Lösung in Sicht?
"Die heftigen Reaktionen der KBV zeigen, dass es offenbar unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wie viel Behandlungszeit den Kassenpatienten zusteht", stichelt Marini vom Spitzenverband der Kassen.
Die Ärzte wiederum pochen auf andere Lösungen, etwa eine Neuregelung der Vergütung oder den Abbau von Bürokratie. So berichtet Vincent Jörres vom Hausärzteverband: "Insbesondere die Krankenkassen überschütten die Praxen mit Formularen. Das ist Zeit, die am Ende für die Versorgung der Patienten fehlt. Das ist mit Sicherheit eine der größten Baustellen überhaupt."
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